Magazin

Eindrücke, die zur
Bewußtheit führen können

Neu/Aktuell

Marcel Proust

GLR | 19.4.2008, 4.2.2023 (Audios ergänzt), 4.10.2023 (Amazon-Rezension ergänzt), 15.4.2024 (Zitate ergänzt), 25.4. (Weblinks, Kauf)

Marcel Proust, französischer Schriftsteller
10. Juli 1871 - 18. November 1922

Kurzbiographie

Berühmt wurde Marcel Proust durch sein Hauptwerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ (À la recherche du temps perdu), einem sieben Bände umfassenden Roman. Zusammen mit James Joyce und Franz Kafka zählt er zu den großen Erneuerern der Literatur im 20. Jhdt. Aber während Joyce vor allem durch seine sprachlich-formalen Experimente bekannt wurde, steht bei Proust noch eine andere Botschaft im Hintergrund, die uns hier näher interessiert. Die absolute sprachliche Meisterschaft, mit der sich Proust artikuliert, ist nur die äußere Fassade einer hochgradig genauen Beobachtungsgabe und eines stupenden Einfühlungsvermögens. Hierdurch nähert sich dieser Autor einer tieferen Dimension des Daseins: er durchdringt jede Nuance, jeden Aspekt der erlebten Wirklichkeit, ganz gleich, ob es sich nun um scheinbar unwichtige, alltägliche Banalitäten handelt oder um aufwühlende Gefühle oder Begebenheiten von schicksalhafter Bedeutung. Hinter allen Betrachtungen und Beschreibungen scheint die Situation des Menschen auf, der sich uneingeschränkt auf seine Erfahrungen einläßt, ganz gleich, wie schön oder wie schrecklich sie auch sein mögen.

Es ist diese Offenheit und Wahrhaftigkeit, die sich dem Leser des Werkes, wenn er sich denn auf die Herausforderung der Lektüre einläßt, nach und nach mitteilt, so daß sich auch seine eigene Stellung zur Welt und zu sich selbst langsam, aber stetig wandelt. Die Lektüre kommt einem sukzessiven Sich-Öffnen und Aufmerken gleich, einem Suchen nach dem tieferen Kern jedes Eindrucks, jeder zwischenmenschlichen Begegnung, jedem Naturerleben — ja sogar die Kleinlichkeiten und Beschränktheiten einer spießigen bürgerlichen Existenz beginnen durch dieses genauere Hineinspüren und Annehmen von innen heraus zu leuchten und eine eigene wunderbare Schönheit auszustrahlen.

Zitate aus den Werken

Wünschen erzeugt Glauben.

Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit;
Band "Die Flüchtige"

... denn der Optimismus ist die Philosophie der Vergangenheit. Da die Ereignisse, die stattgefunden haben, unter allen nur möglichen die einzigen sind, die wir tatsächlich kennen, scheint uns das Schlechte, das sie hervorgebracht haben, unvermeidlich; das wenige Gute aber, das trotz allem durch sie zustande gekommen ist, rechnen wir ihnen hoch an und meinen, es wäre ohne sie nie eingetreten.

Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit;
Band "Die Flüchtige"

GLR Audios

Eine lesenswerte Amazon-Rezension

Bei Amazon habe ich diese äußerst lesenswerte Rezension (Mag Sarah Krampl) gefunden und nehme mir hier heraus, diese komplett wiederzugeben:

Proust zu lesen bedeutet eine Welt zu betreten, deren Luft so dünn wird, dass man das Gefühl hat, in eine eigene sterile, saubere Geisteswelt einzutauchen. In diesem Roman kommen nur die subtilsten, „saubersten“ Gedanken vor. Es gibt nur Geist, keine Erde. Die Keime, die wahrgenommen werden, strahlen ausschließlich aus dem Gewissen aus. In diesem Roman geschieht nichts ruckartiges, die „Action“ findet im Inneren des Protagonisten statt, die äußeren Ereignisse lösen eine Lawine an Gedanken, Erinnerungen, Gefühlen und Überlegungen aus, die der Autor meisterhaft in allen Details darlegt. 14 Jahre hat Proust an diesem 7-bändigen Werk gearbeitet, immer wieder Änderungen und Korrekturen vorgenommen. Von schwächlicher Gesundheit, aber reich, konnte sich Proust ein Leben lang mit Kunst und Kultur befassen und in Kontakt mit Persönlichkeiten aus den höchsten Bildungs- und Aristokratiekreise treten.

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Werke. Frankfurter Ausgabe: 7 Bände in Kassette (suhrkamp taschenbuch) ist ein grandioses Werk, das allgemein von Zeit, Erinnerung, Liebe, Eifersucht und bürgerlichem, aristokratischen Leben in der Zeit der Belle Epoque in Frankreich erzählt. Als Bildungsroman breitet sich die bürgerliche Welt des 19. und frühen 20. Jahrhundert zum Greifen nahe vor dem Leser aus, manche der zahlreichen Protagonisten, wie dem Ich-Erzähler oder Odette und Madame de Guermantes wird man nie wieder vergessen können. Minutiös werden sämtliche Landschaften beschrieben, Proust schreibt seitenlang nur über Sträucher und Blumen zum Beispiel, die er in einem Park sieht und zwei Bücher später tauchen dieselben Sträucher und Blumen wieder in seiner Erinnerung auf. Die Stärke von Proust Romans liegt aber nicht so sehr in der Beschreibung der äußeren Ereignisse und der materiellen Welt, sondern viel eher in der stilistisch und inhaltlich brillanten Beobachtung und minutiösen, bis ins letzte Detail ausgefeilten Beschreibung von Bewusstseinszuständen, Gefühlen und Gedanken, welche sich so in die Länge und Breite ziehen, dass die Zeit ausgedehnt wird und darin keine Chronologie, keine Messung mehr möglich ist. Am Ende der Lektüre wird man gewahr, wie unmerklich die Zeit vergangen ist.

Ich persönlich hatte das Gefühl, ins Innere, in die Gedanken- und Gefühlswelt vom Ich-Erzähler zu treten, als würde ich mit seinen Augen und seinen Gefühlen alles erleben, aber noch mehr, als würde ich in einem in jeglicher Hinsicht ausgedehnten Geist schweben, um aber immer wieder doch diese Art von punktueller Realität zu erleben und zwar immer dann, wenn der Protagonist, meistens durch andere Menschen und sich in Gesellschaft begebend, auf den Boden der Tatsachen katapultiert wird und die Mauer zwischen seinem Inneren und der Außenwelt dadurch durchbrochen wird.

Ein einzelner, bestimmter Bewusstseinszustand wird in diesem Werk oft auf mehr als zweihundert Seiten beschrieben und analysiert. Den zerhackten Assoziationsfluss, der uns heutzutage von einem Thema zum anderen springen lässt und unsere Gedanken infiziert, gibt es in diesem Buch nicht; ein Gedanke wird nicht nur zu Ende gedacht, sondern von allen, einem Menschen möglichen Blickwinkeln betrachtet und gefühlsmäßig erfasst, in seiner Oberfläche und seiner Tiefe. Ein Gedanke wird mit den Sinnen erfasst, mit dem Körper, mit dem Geist und Proust spielt fast damit, setzt diesen Gedanken mit anderen Gedanken in Bezug, mit der Welt, mit der Realität, mit der Phantasie. In Prousts Werk einzutauchen, sich darauf einzulassen zahlt sich schon deshalb aus, weil man am Ende das Gefühl hat, den eigenen Geist bereichert, das eigene Leben um eine wichtige Dimension erweitert und vertieft zu haben.

Die Gabe Prousts besteht darin, dem Leser vor Augen zu führen, wie man sich bei Ausführung bestimmter Tätigkeiten, beim Denken bestimmter Gedanken fühlt; die Beschreibungen darüber sind dermaßen ausführlich und doch sensibel und leicht nachvollziehbar, dass sämtliche Geisteswissenschaftler von ihm noch etwas lernen könnten.

Ein großer Teil des Romans untersucht das Phänomen der Liebe, der verliebten erwiderten und unerwiderten Liebe, der Leidenschaften, die Menschen füreinander empfinden. Proust wird nie ausfällig oder grob, alle leid- und freudvollen Regungen, selbst die stärksten und intensivsten, die negativsten und positivsten, werden auf sublime, geistreiche Art beschrieben. Darin liegt auch eine große Stärke des Autors, Gegenstände und materielle Manifestationen davon, ausschließlich mit seinem feinen Geist zu erfassen und zu beschreiben. Proust würde nie das Wort „Sex“ benützen, nicht einmal „Geschlechtsverkehr“ oder „küssen“, diese Tätigkeiten kommen alle im Buch vor, werden aber ganz anders beschrieben, seitenweise von Gedanken und Gefühlen geschmückt, so dass die Tätigkeit an sich ein kleiner Punkt inmitten eines großen Ozeans an Innerlichkeit bleibt. Und dies verhält sich mit allen äußeren Tätigkeiten und gesehenen Gegenständen und Landschaften auf die gleiche Weise. Proust lässt jemanden etwas sehen, berühren, sagen oder hören und bettet dies in einem großen Ganzen ein, so dass sich das Gesehene, Berührte, Gehörte und Gefühlte in einem breiten Raum im „Gehirn“ verliert und mehr noch, im Geiste sublimiert wird. Proust gelingt außerdem eine genaue Interpretation und Darlegung des Phänomens der Erinnerung.

Die Übersetzung ins Deutsche durch Eva Rechel-Mertens und Luzius Keller ist sehr gut gelungen, ich fragte mich ständig, wie es jemand schaffen konnte, dieses Werk zu übersetzen und jene inneren Regungen und Bewusstseinszustände so meisterhaft in eine anderen Sprache zu übertragen.

Mich interessierten am meisten die philosophischen Passagen, derer es viele gibt und in meisterhaftem Stil von Proust zur Sprache gebracht wurden. Im Folgenden eine kleine Kostprobe aus diesem Band: So groß ist die Feigheit der Vornehmen. Diejenige einer Dame, die mich mit meinem Namen begrüßte, war jedoch noch größer. Ich versuchte, den ihren wieder zu finden, während ich mich mit ihr unterhielt; ich erinnerte mich sehr wohl, dass ich mit ihr diniert hatte, und fand in meinem Gedächtnis auch die Worte, die sie gesagt hatte. Doch meine Aufmerksamkeit, die sich ganz auf jene Region meines Inneren konzentrierte, in der sich diese Erinnerungen an sie befanden, vermochte gleichwohl ihren Namen nicht wiederzuermitteln. Dennoch war er da. Mein Denken hatte sich auf eine Art von Spiel mit ihm eingelassen, bei dem es sich darum handelte, allmählich die Konturen, dann seinen Anfangsbuchstaben zu erfassen und ihn schließlich ganz und gar in mir aufzuhellen. Es war vergebliche Mühe. Ich verspürte ungefähr seinen Umfang, sein Gewicht, doch was seine Form anbelangte, so musste ich mir, wenn ich sie mit dem düsteren Gefangenen, der sich im Dunkel meines Inneren barg, verglich, immer wieder sagen: Der richtige ist das noch nicht. Gewiss hätte mein Geist die schwierigsten Namen erschaffen können. Leider aber handelte es sich nicht darum, zu erschaffen, sondern zu reproduzieren. Jede Tätigkeit des Geistes ist leicht, wenn sie nicht der Wirklichkeit untergeordnet werden muss. Zu dieser Unterordnung aber war ich hier gezwungen. Endlich trat mit einem Male der Name in seiner Ganzheit vor mich hin: Madame d’Arpajon.

Falls es Übergänge zwischen Vergessen und Erinnern gibt, so sind diese Übergänge völlig unbewusst. Denn die Etappennamen, durch die wir hindurch müssen, bevor wir den wahren Namen finden, sind falsch und bringen uns dem richtigen in keiner Weise näher.

… kann man sagen, dass der Tod nicht unnütz ist, sondern dass der Tote auch weiterhin auf uns einwirkt. Er tut es sogar mehr als ein Lebender, weil ja die wahre Wirklichkeit nur durch den Geist offenbar wird, das heißt Gegenstand eines geistigen Aktes ist, und wir deshalb wahrhaft nur kennen, was wir durch das Denken wieder erschaffen müssen und was das Alltagsleben uns vielmehr verbirgt.

Die Zeit, die für den Schläfer während eines solchen Schlafes verrinnt, ist absolut verschieden von der Zeit, in der er sein Leben als wacher Mensch verbringt. Manchmal ist ihr Lauf sehr viel rascher, eine Viertelstunde scheint dann ein Tag zu sein, manchmal auch sehr viel langsamer, denn man meint, nur einen leichten Schlummer getan zu haben, und hat dabei den ganzen Tag geschlafen. Dann fährt man mit dem Wagen des Schlafs in Tiefen hinab, in denen die Erinnerung ihn nicht mehr einzuholen vermag und an deren Pforten der Verstand den Rückzug antreten musste. Das Gespann des Schlafs zieht wie das der Sonne in so gleichmäßigem Schritt dahin, in einer Atmosphäre, in der kein Widerstand es mehr aufzuhalten vermag, dass es eines kleinen von außen kommenden meteorischen Steinchens bedarf (welcher Unbekannte schleudert es wohl aus dem Azur herab?), um den regelmäßigen Schlaf zu treffen (der sonst keinen Grund hätte innezuhalten und im gleichen Zug bis in alle Ewigkeit andauern würde), ihn in einer jähen Kurve unter Auslassung aller Zwischenetappen zur Wirklichkeit zurückzuführen, durch dem Leben schon nahe gelegene Regionen hindurch – in denen der Schläfer bald die noch ziemlich wirren, aber bereits wahrnehmbaren, wenn auch entstellten Geräusche des Lebens hören kann -, und ihn mit unerhörter Plötzlichkeit beim Erwachen landen zu lassen. Man erwacht dann aus solchem Tiefschlaf jeweils in einem Morgengrauen, ohne zu wissen, wer man ist, da man ja niemand ist, vielmehr neu und zu allem bereit, denn das Gehirn ist entleert von jener Vergangenheit, die das dahinter zurückliegende Leben war.

Doch wie wir den Orientierungssinn nicht besitzen, mit dem manche Vögel ausgestattet sind, fehlt uns auch der Sinn für Sichtbarkeit und der für Distanzen, denn wir bilden uns ein, im Zentrum der Aufmerksamkeit von Menschen zu stehen, die im Gegenteil nie an uns denken, und wir ahnen nicht, dass wir währenddessen für andere den einzigen Gegenstand ihres Interesses bilden.

Oft liegt es nur an einem Mangel an schöpferischer Phantasie, dass man in seinem Leiden immer noch nicht weit genug geht. Die furchtbarste Wirklichkeit schenkt zugleich mit dem Leiden die Freuden einer schönen Entdeckung, weil sie nur dem neue und klare Form verleiht, woran wir schon lange herumtasteten, ohne es recht zu erraten.

Weblinks

Kauf

Alle mit Amazon-Logo versehenen Links sind via Provision gesponsert.

1 Wichtig: Klassische, korrekte deutsche Rechtschreibung, nicht die falsche nach der "Rechtschreibreform"!

Als Amazon-Partner verdiene ich an qualifizierten Verkäufen.

Startseite | GLR Bücher | HTML5
Copyright © 2024 Gerd-Lothar Reschke  | Impressum | Datenschutz